19 September 2010

Ereignisreiche Jahre - die an manchen spurlos vorbeigegangen sind

Zurzeit bin ich besessen von der Arbeit an diesem Text:

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Ereignisreiche Jahre und Jahrzehnte waren es in den Augen der beiden Freunde und, es kommt allerdings stets auf den Standpunkt und den Blickwinkel an: bewegende für die Welt und die Menschheit oder auch gänzlich uninteressante, wie jene vielleicht monieren möchten, die alles, was geschieht oder sich ergibt, entweder als selbstverständlich oder dann als unveränderbar, da von einer göttlichen oder sonst einer unerklärlichen Macht vorgegeben erklären oder hinnehmen oder es sogar zustande bringen, selbst während einer doch geraumen Zeitspanne von bis zu mehreren Jahrzehnten oder ein ganzes Leben lang einfach wegzuschauen, den Blick abzuwenden oder die Augen zu schliessen: Es waren, worauf die Freunde zurückblicken könnten, wenn ihnen der Sinn danach stünde, über alle diese Ereignisse zu diskutieren, die Jahre des wirtschaftlichen Aufschwungs und des kalten Krieges, des Überfalls der sowjetischen Armee auf die Tschechoslowakei, des Eisernen Vorhangs und der Ermordung John F. Kennedys und Martin Luther Kings und Robert Kennedys und Ché Guevaras und anderer Persönlichkeiten, die zu diesem Zeitpunkt bereits in die Weltgeschichte eingegangen waren oder noch eine gewisse, den Tag und die Ära, die Epoche überdauernde Bedeutung hätten erhalten oder erringen oder erarbeiten können, und der ungezählten namenlosen Toten und Verletzten und Verstümmelten – an Körper oder an der Seele oder an beidem –, des Sechstage- und weiterer Kriege im Nahen Osten bis zum Überfall auf Kuwait und George W. Bushs Irak-Krieg, der Kriege in Vietnam und in Kambodscha und in Ex-Jugoslawien und in Afghanistan, diverser Völkermorde auf dem afrikanischen Kontinent, der Ozonlöcher, des Waldsterbens und der Erderwärmung, der Mondflüge, der Kuba-Krise und der deutschen sowie der arabischen und vieler anderer Terroristen, der herausragenden Gauner und der brutalen Verbrecher, des Papstattentats und in der Schweiz der Gründung des Kantons Jura nach Vorgängen, die sich am Rande eines lokalen Bürgerkriegs in dem Land bewegten, des Falls der Berliner Mauer und diverser Ölkatastrophen auf den Weltmeeren, des verheerenden Tsunami in Asien und unzähliger Erdbeben und Vulkanausbrüche und Überschwemmungen, des monatelangen Nachzählens von Stimmen in einer amerikanischen Präsidentenwahl, von Elvis Presley und den Beatles und den Rolling Stones und der Rekorde in allen Bereichen und der Pleiten in ebendiesen, vom Platzen der Dotcom-Blase bis zur grossen Bankenkrise, von Daniel Doblers grosser Liebe und jener von Ludwig Engelsmann, vom Gedeihen dieser Beziehungen und ihrem Niedergang.

Die Aufzählung ist unvollständig und wird es auch bleiben, sie ist schrecklich subjektiv, da sie auf spontanen Erinnerungen der beiden Protagonisten basiert, die vielleicht schon morgen anders ausfielen, würde man sie erneut darum bitten, in einer Minute und ohne nachzudenken zu nennen, was ihnen an Weltbewegendem und Erinnerungswürdigem in ihrem Gedächtnis haften geblieben ist. Und als weitere Einschränkung kommt natürlich hinzu, dass alles, was ihnen als nennenswert erscheint, an anderen Menschen unter Umständen völlig spurlos vorbeigegangen ist, da sie zu diesem oder jenem Zeitpunkt, als das eine oder das andere Ereignis eintrat, gerade mit anderen, mit persönlichen oder privaten – was nicht dasselbe zu sein braucht – oder geschäftlichen Angelegenheiten befasst waren oder sich schlicht nicht interessierten für alles, was ausserhalb der eigenen, kleinen Welt lag damals und diese Haltung womöglich bis zum heutigen Tag beibehalten haben und in alle Zukunft beibehalten werden, denn dies kennzeichnet, wie man immer wieder mit etwelchem Erstaunen feststellt, eine nicht zu unterschätzende Menge Menschen: Dass sie sich ausserhalb ihres eigenen, überschaubaren Umkreises für nichts, aber auch gar nichts interessieren und kaum wahrzunehmen scheinen, was in ihrem weiteren Umfeld tagein, tagaus geschieht.

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Aus »Die Zukunft der Zukunft« von Martin Andreas Walser (erscheint vermutlich 2011)

07 September 2010

»Wie viel von dir selber steckt in deinen Büchern?«

»Wie viel von dir selber steckt in deinen Büchern?«, wurde ich gefragt - und das habe ich geantwortet:

Die Frage ist nicht ganz einfach zu beantworten, denn oft merkt man selber ja nicht oder ahnt nur, wie viel man von sich in ein Buch hineingegeben hat - und plötzlich sagt jemand (und man erwacht aus dem Traum, eine Geschichte erzählt zu haben, die so gar nichts mit der eigenen Person zu tun hat): «Da war ich doch dabei», oder: «Typisch für dich - so etwas kann auch nur dir passieren.»

In meinem ersten Roman, «Vom Leben», steckte, und dies bewusst, sehr viel von mir selbst drin, denn ich habe mir darin nach all den Jahren des Schweigens und des Suchens und der Pläne für ein Buch in Lissabon, wohin ich seither regelmässig zurückkehre, alles von der Seele geschrieben, was sich in der langen Zeit aufgestaut hatte mit der immer ultimativeren, schliesslich nicht mehr überhörbaren Forderung aus dem tiefsten Inneren: «Erzähle es.»

Allerdings habe ich (fast) alles verfremdet, umgeformt, Gedanken und Überzeugungen und Aussagen anderen Personen zugeordnet (beispielsweise der fiktiven Geliebten des Erzählers), und dies nicht nur einmal, sondern zwei-, drei-, viele Male, bis mir das Private und das Allzuprivate auf ein akzeptabel geringes Mass reduziert zu sein schienen, denn ich habe in meinem Kopf auf- und dabei vieles weggeräumt, aber doch nicht in der Absicht, mit einer «Lebensgeschichte» (oder gar -beichte) langweilen zu wollen!

«SehnSucht» sodann geht auf einen Besuch in einem kleinen französischen Dorf zurück, der vor Jahrzehnten stattgefunden hat; die Geschichte, deren Kontur mir damals bereits einfiel, ist aber rein fiktiv (bis auf die Person der weiblichen Protagonistin, die ich bei einer real existierenden Frau entlehnt habe). Und noch weiter weg von mir selbst ist die zweite Erzählung, «Herzbluten», während der Roman «UnGlück» wiederum auf eine sehr kleine Sequenz zurückgeht, die ich einmal in London erlebt oder besser: beobachtet habe. Hier steckt insofern sehr viel von mir drin, als ich die Geschichte fast zwanzig Jahre in mir herumgetragen habe und sie reifen liess, bis ich sie so erzählen konnte, wie ich sie schliesslich erzählt habe.

Sehr persönlich wird erst wieder mein im Entstehen begriffener (noch ist es mein übernächster, da «Der Anschlag» zwar fertig, aber noch nicht publiziert ist) Roman «Die Zukunft der Zukunft» sein, dessen Veröffentlichung ich für 2011 plane. Er erzählt sich einerseits ganz leicht, da vieles sich förmlich vordrängelt, um niedergeschrieben zu werden (was sich, beispielsweise, in den, zirka bei «Halbzeit», bereits über 600 angesammelten Buchseiten niederschlägt), und andererseits sehr schwer, da ich mich bei jeder dieser kleinen Begebenheiten, die gleichwohl nur Rand- und Seitengeschichten in einem grossen Rahmen sein werden, immer wieder neu frage und fragen muss, ob und wie ich sie erzählen soll - und noch schwerer fällt manchmal das Schreiben, da manches mich erneut erfreut, vieles aber auch einen damals empfundenen Schmerz wieder wachruft oder alte Wunden aufreisst.

Was aber so oder so in jedem meiner Texte - und ich denke in allen ernstzunehmenden - drinsteckt, ist dies: Viel, viel, unendlich viel Herzblut - eigenes natürlich. . .

Nachzulesen auf der Seite »Der Bücherwahnsinn«