14 März 2011

»Zeitweise halte ich es fast nicht mehr aus in dieser Welt«

Fast glaubte ich schon, den zweiten Teil meiner Triologie aus dem Zyklus »Die Zukunft der Zukunft« (Bild: Band 1, ISBN 978-3-8423-3969-9, Roman, 188 Seiten, Gebunden) demnächst abschliessen zu können. Die Ereignisse und Vorgänge der letzten Wochen und Tage haben mich trauriger, zorniger und noch nachdenklicher und pessimistischer gestimmt. Meinem Helden Ludwig Engelsmann habe ich nun diesen neuen Einstieg in die zweite Diskussion am Tisch des Landgasthofes Bären im schweizerischen Emmental in den Mund gelegt:

»Zeitweise halte ich es beinahe nicht mehr aus in dieser Welt, es kotzt mich, verzeihe mir diesen Ausdruck, doch er trifft zu, dessen kann ich dich versichern, regelrecht an, alles, was um uns herum geschieht oder unterbleibt, alles, was uns aufgetischt oder was uns unterschlagen wird, das, was man vor uns geheim zu halten versucht und was man uns weismachen will, uns, diesem dummen und trägen Volk, das ohnehin nicht in der Lage ist, die Zusammenhänge zu erkennen und alles richtig einzuordnen und die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen, und wir geben dieser Einschätzung, dieser beleidigenden und verachtenden Qualifikation auch noch Nahrung, denn uns scheint nur noch zu kümmern, wer nächstes Top-Model wird und ob dieser oder jener Kerl verurteilt wird beispielsweise, und wir lassen uns darauf reduzieren, über Fragen zu entscheiden wie: Wollen wir ein totales Rauchverbot, wollen wir ein Verhüllungsverbot, wollen wir Minarette oder nicht? Wir liefern uns hitzige Scheingefechte um solche Fragen und sind scheinbar zufrieden. Und was tun wir zwei derweil? Auch wir sitzen bloß herum in diesem Landgasthof im Emmental, wohin ich dich zum Essen eingeladen habe, wir unterhalten uns ganz nett und freundlich und gepflegt und breiten voreinander unsere kleinen und größeren Sorgen und Nöte und Freuden und Gelüste aus, wir überlegen uns zwischendurch, was wir essen sollen und unternehmen nichts weiter, wir sind nicht besser – und wohl auch nicht schlechter – als der Durchschnitt der Menschheit, was beileibe kein Ruhmesblatt ist. Wir unternehmen nichts, wir reihen uns ein in die lange Reihe von Menschen, die allesamt letztlich nichts unternehmen, auch wenn zwischendurch die verbalen Wogen hochgehen: Das Gros der Menschheit begibt sich tags darauf in die Büros und in die Betriebe und es werden Stöße von Akten und Berge überflüssiger Dinge produziert, als sei nichts geschehen, wir halten, sagt man, die Wirtschaft in Schwung und wir tragen zu freundlichen Aktienkursen bei, nicht mehr und nicht weniger. Wenn ich zu Hause sitze, in meiner Stube oder im Garten, oder wenn ich über die Felder oder durch den Wald gehe, frage ich mich immer und mit jedem Mal eindringlicher, bohrender, quälender, mich selbst zerstörend oder an den Rand des Abgrunds manövrierend letztlich, ob denn niemand erkennt, was geschieht, oder ob eventuell einfach niemand sehen will, was sich ereignet und verändert und verschlimmert, von Tag zu Tag und von Stunde zu Stunde. Und dann muss ich mir sagen: Wir alle haben uns halt unser kleines, unser bequemes Leben eingerichtet, und selbst manche von jenen, die lautstark ein wie auch immer geartetes und motiviertes Umdenken fordern, haben dabei den Rest der Menschheit im Fokus und nicht primär sich selbst oder ihr eigenes, insbesondere ihr politisches Fortkommen oder Überleben: Bei den Anderen soll beginnen, was dereinst eine >neue Welt< werden soll, von ihr, dieser diffusen >Umgebung<, von der wir stets so genau wissen, wie sie sich eigentlich verhalten soll, erwarten wir ein Zeichen des Umdenkens, alle sind aufgerufen, aber jemand müsste ernsthaft damit nicht nur beginnen, sondern dies auch, und erst noch selbstlos durchhalten, das eigene Leben und das eigene Verhalten zu ändern ist nicht einfach, zugegeben, würde jemand, lautet unsere Ausrede oder Erklärung oder die Rechtfertigung unseres Zögerns, nur endlich beginnen, dann würden wir ebenfalls folgen. So geht es zu und her bei uns und in unserer und in vielen anderen Gesellschaften und nicht nur in unserem Staat und letztlich im größten Teil unserer Welt. Doch noch mehr als die Ereignisse und die Katastrophen und die Verbrechen und Grausamkeiten gegen die Menschheit selbst machen mir die Begleiterscheinungen zu schaffen, ja, so könnte man sie wohl nennen, dieses Verschweigen und Schönreden und Lügen und Aus-weichen, all dies, was uns einlullt und uns wiederum daran glauben lassen wird, dass nichts um uns herum geschieht, worüber wir uns Sorgen zu machen haben und was uns bestärken wird im Glauben, wir könnten, und dies auf ewige Zeiten, so weitermachen wie bisher. Alle jene bereiten mir in einer nach oben offenen Skala Mühe, lassen mich würgen und verursachen in mir einen Brechreiz, die von alledem profitieren und Wasser auf ihre eigenen Mühlen lenken wollen, denn dies bringt uns keinen Millimeter weiter. Wir konsumieren, was man uns vorsetzt, irgendwann ist die Aufmerksamkeit erloschen und wir wenden uns, angewidert oder abgelenkt oder weil wir uns ein wenig Erholung von den Schrecken gönnen wollen, einfach ab, wir knipsen überall im Haus oder in der Wohnung das Licht an und schalten den Fernseher ein und die Stereoanlage und was es sonst alles gibt und fahren weiter mit dem Auto herum – es ist uns schon lange egal, wo das Benzin herkommt – und haben sehr schnell vergessen, was wir uns und anderen soeben noch gelobt haben.«